Leseprobe
Ein Leben in Simbabwe
Am folgenden Morgen, es ist Ostersamstag, erwache ich voller Spannung. Wir haben unser Zuhause in der Dunkelheit erreicht, konnten also nicht erkennen, wo wir uns befinden. Mein gestriger Eindruck, dass wir ans Ende der Welt führen, fand keine Bestätigung, da die alles durchdringende Dunkelheit die Sicht auf die Wirklichkeit verbarg.
Unser Haus steht inmitten einer gepflegten Gartenanlage. Da in Simbabwe der Herbst bereits begonnen hat, ist das Gras verdorrt, hat dieselbe Farbe wie bei uns das Heu. Es wachsen viele Bäume auf unserem Areal, zum Teil bekannte, zum Teil tropische oder subtropische, die auf uns fremd und faszinierend wirken. Gleich neben dem Eingangstor zum Garten stehen Hühner- und Entengehege und hinter dem Haus liegt ein großer Gemüsegarten. Beim Rundgang ums Haus werde ich von so vielen Eindrücken überwältigt, dass ich Mühe habe, das Gesehene einzuordnen.
Die ganze Umgebung wirkt ansprechend auf mich, richtet mich auf und gibt mir die Gewissheit, dass ich mich hier wohlfühlen werde. Obwohl Andrea und Michael mir auf Schritt und Tritt folgen, scheinen auch sie entspannter zu sein. Vielleicht spüren sie unsere Freude, hier zu sein.
Ich brauche wohl nicht speziell zu erwähnen, dass der Neuanfang in einem fremden Land, auf einem unbekannten Kontinent, emotional eine unheimliche Herausforderung bedeutet. Vorfreude, Abenteuerlust, Interesse an fremden Kulturen und ein klein wenig Angst vor der eigenen Courage wechseln sich beständig ab. Die große Anspannung während der vergangenen Wochen vor unserer Abreise sowie der letzten Tage vor unserer Ankunft zeigen nun ihre Wirkung: Ich fühle mich unendlich müde und ausgelaugt. Bestimmt empfinde ich deshalb auch die drei Buben von Webers als besonders laut und lebhaft. Christian achtjährig, Thomas sechsjährig und Stefan vierjährig knistern vor Energie. Sie rennen und schreien den ganzen Tag durchs Haus. Neben unseren beiden gänzlich auf die Mutter bezogenen und momentan recht scheuen Kindern wirkt das nicht gerade erholsam. Michael hustet noch stark, seine Körpertemperatur hat sich aber Gott sei Dank wieder normalisiert.
Auf der Reise von Südafrika nach Simbabwe haben wir unseren beiden Kindern einen aufblasbaren Ball geschenkt, mit dem sie unterwegs gelegentlich spielten. Voller Freude über den großen Garten holt ihn Michael nun aus dem Haus und beginnt, Fußball zu spielen. Bereits nach fünf Minuten schreit er in den höchsten Tönen, lässt sich kaum beruhigen. Neben ihm liegt ein schlaffer Ball. Er hat genauso wenig wie ich bemerkt, dass in unserem Garten Christus-Dorn-Pflanzen wachsen. Sie sind für Plastikbälle wohl die größten Feinde. Bevor ich ihm erklären kann, wie sein Ball kaputtgegangen ist, kommt Christian freudestrahlend mit einem zweiten Ball aus dem Haus gerannt, der augenblicklich das gleiche Schicksal erleidet. Somit ist das Thema Fußball bereits am ersten Tag abgeschlossen.
…es vergehen einige Monate. Wir freuen uns über unsere ersten Gäste aus der Schweiz…
Blandina
Es sind bereits zwei Tage seit dem Eintreffen unserer nächtlichen Besucher vergangen, als Blandina uns zu sich nach Hause zum Mittagessen einlädt. Blandina ist die Frau, die unsere Haushälterin Alice während derer Ferien vertrat. Sie ist mir seit dieser Zeit eine gute Freundin geblieben. Oft treffen wir uns auf einen Schwatz im Spitalareal. Sie arbeitet dort in der Wäscherei. Ich erkläre ihr, dass wir insgesamt fünf Leute zu Besuch hätten und dass ich diese Besucher nicht alleine zu Hause lassen wolle. Sie solle mich doch besser ein anderes Mal einladen. Darauf ertönt ihr lautes, herzliches Lachen: „Ich wollte dich doch sowieso mit allen Freunden einladen.“ Schwester Elisabeth, meine fünf Besucher, die Kinder und ich fahren also heute Morgen mit dem Auto los, etwa zehn Kilometer über ungeteerte Straßen. Wir parkieren unseren Passat am Straßenrand, wo wir von unseren Gastgebern bereits erwartet werden. Als Geschenk bringe ich ein lebendiges Huhn aus meinem Gehege und Murivo (= Kohlgemüse) aus meinem Garten mit. Elisabeth hat im Klostergarten viele frische Mandarinen für die Gastgeber gepflückt. Diese nehmen uns alles Gepäck ab und tragen es zu ihrem Kral.
Dort wohnt Blandina mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern. Das Leben der Familie spielt sich vor allem draußen ab. Bei kaltem Wetter und nachts wohnen sie in ihren drei Hütten. Ein kleines, viereckiges Häuschen dient den Eltern als Schlafraum, eine Rundhütte hat die Bedeutung des Kinderzimmers, ist jedoch viel kleiner als jedes Kinderzimmer in unseren Schweizer Wohnungen. In dieser Hütte von höchstens zweieinhalb Meter Durchmesser schlafen einige Kinder, zwei bis drei verbringen die Nacht in der Küchenhütte. Diese stellt das wichtigste Gebäude dar. Sie ist gleichzeitig Küche, Esszimmer und Wohnraum. Möbel gibt es in diesen traditionellen Hütten kaum. Viele Ehepaare besitzen ein Bett, die Kinder schlafen auf dem Boden. Die Leute benötigen nur wenige Kleider, die an Haken oder Nägeln an der Wand hängen oder in einer Kartonschachtel verstaut werden. In der Küchenhütte wurde ein einfaches offenes Gestell direkt an die Wand modelliert. Als Baumaterial dafür diente ein Lehm-Dung-Gemisch, mit dem auch die Wände und der Boden gepflastert wurden. Auf diesem Gestell stehen meist nur einige Blechtöpfe, Tassen und Teller, normalerweise je ein Stück für jede Person des Haushalts.
Zuerst werden wir in diese einfache Küche geführt, wo wir uns der Außenwand entlang auf den Boden setzen. Die Augen müssen sich zuerst an die Dunkelheit in der fensterlosen Hütte gewöhnen, ebenfalls an den Rauch, der vom Feuer kommt, das in der Mitte des Raumes brennt. Auf einem eisernen Gestell kocht über dem Feuer in zwei großen Pfannen Wasser. Beiderseits gibt man der Freude über diesen Besuch Ausdruck. Danach bringt Clarence, Blandinas älteste, siebzehnjährige Tochter, zwei lebende Hühner in unseren Kreis. Diese wurden uns zu Ehren als Mittagessen ausgewählt. Wir reichen die Tiere von Hand zu Hand weiter. Alle begutachten und rühmen das schöne, kräftige und gesunde Federvieh. Wir können uns überzeugen, dass wir frisches Fleisch von gesunden Hühnern aufgesetzt bekommen werden.
Danach tragen die beiden ältesten Mädchen das Geflügel nach draußen. Clarence ist in ihrem Alter schon eine gute Köchin und kennt ihr Handwerk. Geschickt packt sie ein Huhn an den Beinen und wirbelt es so lange im Kreis herum, bis dieses ganz benommen wirkt. Dann legt sie das nahezu bewusstlose Tier auf den sandigen Boden vor der Hütte und schneidet ihm den Kopf ab. Dem zweiten Tier wartet die gleiche Prozedur. Danach überschüttet sie die toten Hühner mit heißem Wasser und rupft geschickt und flink die weichen Federn aus ihren Leibern. Die Arbeit im Freien ist getan. In der Hütte entnimmt Blandina den Hühnern die Innereien. Darauf wird alles in einer Pfanne über dem Feuer angebraten und danach so lange gekocht, bis alle Speisen gar sind. Das Kohlgemüse wurde bereits vor unserer Ankunft gewaschen und in feine Streifen geschnitten, ebenfalls die Tomaten, die mit dem Murivo zusammen gekocht werden. Blandina lässt Clarence mithilfe ihrer Schwestern und Tanten kochen, die ebenfalls hier zu Besuch weilen.
Unterdessen zeigen ihre jüngeren Kinder und einige Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft Tänze, singen Lieder in ihrer Muttersprache Shona und machen Spiele, die sie vermutlich in der Schule gelernt haben. Blandina bittet ihren neunjährigen Sohn, Gedichte in Shona und Englisch zu rezitieren. Das alles wirkt nicht etwa wie eine Theater- oder Tanzaufführung, einstudiert für Touristen. Vielmehr versuchen sie uns zu zeigen, wie sie sich über unseren Besuch freuen und was für ein glückliches Leben sie im Busch führen ... und wir dürfen es mit ihnen teilen. Danach zeigt uns Blandina ihre Hütten, die Hühner, die in einem einfachen Gehege untergebracht sind, und stellt uns alle ihre Kinder vor. Sie ist eine glückliche und stolze Mutter. Ihr Mann ist nicht zu Hause. Dafür stellt sie uns ihre Schwägerin, ihre Schwester und einige Freundinnen vor, die mit ihren Kindern ebenfalls zum Essen gekommen sind. Zwischendurch setze ich mich erneut in die Küche, brauche aber immer wieder Erholungsphasen für meine Augen, welche die rauchige Luft in der Hütte nicht allzu lange ertragen und immer wieder anfangen zu tränen. Unsere Besucher staunen über die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit dieser Menschen. Sie sitzen abwechselnd in der Küche und draußen.
Die Frauen instruieren Frieda und mich in ihrer Handarbeit. Sie zeigen uns, wie man Sisalfasern auf dem Oberschenkel zu einer Schnur dreht. Sie lachen herzhaft über die ungeschickten Bewegungen unserer Hände und über unsere empfindliche Haut auf den Oberschenkeln, die sich bereits nach den ersten Versuchen stark rötet vom Reiben dieser rauen Fasern. Danach werden die selbst gedrehten Schnüre zu hübschen Körbchen verarbeitet. Diese Arbeit geht mir besser von der Hand, doch im Vergleich zu den flinken Bewegungen der Einheimischen komme ich mir recht tollpatschig vor.
Vor dem Haus breitet Clarence Strohmatten aus, und wir werden freundlich aufgefordert, darauf Platz zu nehmen. Eine Wasserschüssel zum Waschen der Hände wird herumgereicht, zuerst den europäischen Besuchern, dann den einheimischen Freunden und Verwandten. Die Frauen haben unterdessen das Huhn fertig gekocht und zusätzlich Sadza, den traditionellen weißen Maisbrei, und Reis gekocht. Als Gemüse haben sie ein schmackhaftes Gemisch aus Murivo, Tomaten und Erdnusssoße zubereitet. Wir essen mit der blossen Hand, immer drei bis vier Personen aus einer Schüssel. Dazu trinken wir klares Wasser. Nach dem Essen suchen die Frauen auf dem Hof überall nach Blecheimern und trommeln darauf mitreißende Rhythmen, während alle dazu ausgelassen und fröhlich singen und tanzen. Hemmungen scheint es hier keine zu geben. Ich erinnere mich schmunzelnd an verschiedene Diners mit vielen Gästen in der Schweiz, oft eine recht steife Angelegenheit. Hier fühle ich mich sehr wohl und geborgen. Die andere Hautfarbe und die fremde Sprache empfinde ich keineswegs als Schranke. Abgesehen von meinen Hemmungen, die ich überwinden muss, um ebenfalls zu tanzen, fühle ich mich den Menschen hier verbunden.
Nach dieser schmackhaften Mahlzeit machen wir einen Spaziergang zum Bohrloch, bei dem die Familie täglich ihr Wasser holt. Andrea sitzt stolz auf Blandinas Rücken, Michael auf den Schultern von Clarence. Die Wasserstelle liegt etwa zehn Minuten Fußmarsch vom Crawl entfernt. Außer mir und den Kindern tragen alle Europäer für diesen Ausflug in den Busch feste Turnschuhe. Sie fürchten sich vor den harten und unebenen Feldern und Wegen, auf denen sie sich leicht ein Gelenk „vertreten“ könnten, und vor den spitzigen Dornen, die man im Busch überall antrifft und die so tief in die Haut eindringen können. Auch Schlangen leben hier, eine weitere Gefahr. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass meine afrikanischen Freundinnen barfuß gehen.
Danach zeigt uns Blandina ihren Garten, der von hungrigen Kühen kahl gefressen wurde, trotz riesiger Dornenhecken, die mit ihren langen und spitzen Nadeln jeden Menschen abschrecken. Die Tiere, die sich da durchgewagt haben, müssen unheimlichen Hunger gehabt haben. Nach einem erlebnisreichen und sehr eindrücklichen Tag, der mir die afrikanische Kultur wieder ein Stück nähergebracht hat, verabschieden wir uns von unseren herzlichen Gastgebern. Diese begleiten uns zurück an die Straße, wo sie so lange winken, bis wir aus ihrem Blickfeld verschwunden sind. Eine simbabwische Höflichkeitsformel sagt, dass man einen Gast den halben Heimweg begleitet. An diesem Abend empfinde ich ein tiefes Glücksgefühl. Ich bin froh darüber, zwei Jahre in diesem Land Gast sein zu dürfen.
Eine Afrikanerin beschreibt dieses Treffen aus ihrer Sicht:
Heute bin ich Gast bei Blandina und ihren Verwandten. Außer Schwester Elisabeth kommt auch die Arztfrau mit ihren Kindern und einigen weißen Ausländern und Ausländerinnen zu Besuch. Gemeinsam holen wir sie bei der Straße ab, denn die Wege im Busch sind für Außenstehende schwer zu finden. Die Frau hat uns Gemüse aus ihrem Garten und ein lebendiges Huhn mitgebracht, Schwester Elisabeth frisches Obst. Auf dem Weg zum Kral beobachte ich die Weißen. Außer der Frau und ihren Kindern, die in Sandalen gehen, tragen alle geschlossene Schuhe, Turnschuhe, zum Teil bis über die Knöchel. Trotz der intensiven Hitze, die über Mittag herrscht, beneide ich sie um das stabile Schuhwerk. Zwar quetschen sie ihre Zehen in diese engen Lederdinger, doch dafür laufen sie nicht Gefahr, von einer Schlange gebissen, von einem Dorn verletzt oder von der heißen Erde verbrannt zu werden. Gerne erinnere ich mich an meine ersten Schuhe, die ich zu Schulbeginn geschenkt bekam.
Alle sind sehr interessiert an unserer Wohnform. Sie staunen über die gepflegten, aufgeräumten Schlafhütten und setzen sich danach mit uns in die Küchenhütte. Sie scheinen nicht an ein offenes Feuer gewöhnt zu sein, denn immer wieder hustet jemand und geht dann für einige Minuten nach draußen. Wir bringen ein Huhn in die Küche, natürlich nicht das geschenkte, denn das wäre unhöflich. Nicht alle Gäste wollen es berühren, ich weiß nicht warum. Das Herumreichen des Tieres, das nachher geschlachtet wird, ist ein Ritual, das bei uns eine wichtige Bedeutung hat. Der Gast nimmt es in seine Hände, schaut es aufmerksam an und rühmt es mit den Worten: „Danke, dieses Huhn kannst du kochen!“
Blandina fragt die kleine Andrea, was sie nachher zum Essen am liebsten trinken möchte. Das Mädchen wünscht sich Mazoe, ein Orangensirup, den sich die Familie sonst nie leistet. Ihre Mutter winkt beschämt ab und sagt, Wasser sei ihnen am liebsten. Ich sehe der Kleinen an, dass sie Sirup bevorzugen würde. Ich rufe eines der Kinder, gebe ihm zwei Dollar und schicke es in die Township. Da der Weg dorthin weit ist, bittet dieses den Nachbarn, ihm sein Fahrrad zu borgen. Nach vielleicht einer Stunde kommt es mit dem Wunschgetränk zurück. Unterdessen sind Andrea und ihre Mutter mit Clarence nach draußen gegangen. Sie wollen dabei sein, wenn das Huhn geschlachtet wird. Dass die Kleine zusehen will, verstehe ich. Aber eine Frau? Die weiß doch bestimmt, wie man das eigene Federvieh zubereitet?!
Nach der Mahlzeit trommeln wir, singen und tanzen. Auch unsere Gäste fordern wir dazu auf. Schwester Elisabeth macht sofort mit, doch die anderen brauchen Zeit und wohl auch unsere Überredungskünste. Endlich stehen sie auf und tanzen und lachen mit uns. Wie sich das wohl in geschlossenen Schuhen anfühlt? Franca zündet sich nach dem Essen eine Zigarette an. Ich bin entrüstet, lasse es mir jedoch nicht anmerken. Ich nahm an, sie sei die Frau von René? Dann kann sie doch nicht rauchen! Nur Frauen, die sich an andere Männer verkaufen, rauchen Zigaretten.
Nach einem abwechslungsreichen Tag begleiten wir unsere Gäste zurück zum Auto. Wären sie zu Fuß gekommen, hätten wir sie ungefähr den halben Weg nach Hause begleitet. Das gehört zu unserer Gastfreundschaft.